Ein Erzählabend ist immer auch eine Reise in die Vergangenheit. Er speist sich aus persönlichem Erleben. Manchmal sind es Geschichten von Ereignissen, die heute so nicht mehr erfahrbar sind. Manchmal sind es Geschichten eines anderen Zeitgeists. Diesen Geschichten lauschen zu dürfen, ist ein großes Privileg, vor allem dann, wenn ich denke: „Wow, wie muss sich das angefühlt haben?“ Und gleichzeitig denke ich: “Was wäre, wenn der Geist dieser Zeiten heute wieder wirken könnte? Was wäre, wenn sich die Energie solcher Erlebnisse wieder neu entfachen ließe?”
Wir waren gerührt von den Geschichten des Abends, weil sie geprägt waren von Geselligkeit und Verbundenheit. Weil sie die Menschen nahbar machen, wie sie im schnellen Vorbeigehen kaum wahrgenommen werden können. Weil sie die Orte wertschätzen, die für uns alle zugänglich sind und sie in ein gefühlsbetontes Licht rücken.
Für uns war an diesem Abend spürbar, dass in der Innenstadt-Ost in den vergangenen Jahrzehnten ein Mix aus gewachsener Tradition und dem Wunsch nach kultureller Vielfalt gelebt wurde. Da die Adlerstraße selbst offenbar bis in die 70er Jahre hinein die Grenze zur Altstadt, dem sogenannten “Dörfle”, bildete, bündelten sich an dieser Stelle viele Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte.
Das Dörfle hatte keinen übermäßig guten Ruf: Aus den Berichten eines ehemaligen Bewohners wurde offenbar, dass es früher eine Rotlicht- und Vergnügungsmeile war, wo der Straßenstrich florierte. Die Zuhälter hatten entlang der Zähringerstraße ein für Außenstehende unübersichtliches Geflecht von Alltagsleben und Prostitutionsbetrieben geschaffen. Lange sah die Stadt der Entwicklung machtlos zu, dann fiel die Entscheidung, die meisten alten Häuser und Hinterhöfe abzureißen.
Der Turm der protestantischen Stadtkirche steht majestätisch mitten im Quartier. Dank eines großen musikalischen Engagements der Pfarrerin fand vor einigen Wochen auf dem Turm eines der wiederkehrenden Konzerte bei Sonnenuntergang statt. Ein Gast erzählte begeistert von der Atmosphäre über den Dächern der Stadt. Für ihn ist dieses Angebot der Stadtkirche ein echter Gegenentwurf zu den deprimierenden Meldungen von zunehmenden Kirchenaustritten. Wir waren beeindruckt von den Berichten einer lebendigen Gottesdienstgestaltung. Wir konnten Musik, Farben, Meditation und große Offenheit aus der Erzählung nachempfinden.
Der Gewerbehof war für einen anderen Teilnehmenden als junger Mann ein inspirierender Ort. Als Wirtschaftsgymnasiast hat ihn die Gruppe von Menschen sehr beeindruckt, die dort ein nicht gewinnorientiertes Wirtschaften im Kollektiv ausprobieren wollte. Zu einer jungen Dame aus dieser Gruppe fühlte er sich besonders stark hingezogen und kam daher regelmäßig zu den Sitzungen des Kollektivs – eine schöne Liebesgeschichte, die alle Zuhörenden sehr berührt hat.
Auch Künstler haben im Viertel ihr Zuhause, zum Beispiel im Künstlerhaus in der Kriegsstraße. Nach wie vor ermöglicht die Stadt es jungen Künstlern, zu erschwinglichen Mieten in geeigneten Häusern unter einem Dach leben und arbeiten zu können. Eines dieser Künstlerhäuser ist im Viertel noch immer intakt, allerdings berichtete ein Teilnehmender von Problemen und Misstrauen unter den Bewohnern. Aktionen, in denen wie in früheren Zeiten zum Tag der offenen Tür geladen wurde, finden so gut wie gar nicht mehr statt. So ist das Haus auch bei den Bewohnern der Innenstadt-Ost kaum präsent.
Und vor allem die (Versammlungs-)Plätze zeichnen ein Stadtviertel aus, das war einhellige Meinung in der Runde. Der Lidellplatz ist heute von vielen gern genutzt zum Verweilen, um mit einem Kaffee oder einem Getränk in der Hand das Treiben zu beobachten und den Spielplatz oder den kostenlosen Bücherschrank zu nutzen. Solche Entwicklung wünschen sich viele auch für den Kronenplatz. Während er heute zum Teil als Startpunkt von Fahrrad-Aktivisten oder als Aktionsort des Jubez wahrgenommen wird, gab es Zeiten, da haben sich nur wenige auf diesem Platz aufgehalten. Phasenweise war der Platz sogar Aufenthaltsort für die harte Drogenszene, die dort täglich kampierte. In guter Erinnerung ist bei den „Alteingesessenen“ der Kultur-Markt geblieben, der lange Zeit einmal im Monat Kulturschaffenden die Möglichkeit gab, ihre Arbeiten zu präsentieren und Liebhabern von Flohmärkten eine Auswahl an Raritäten bot. Den Erzählungen über diese Veranstaltung war zu entnehmen, dass es die Menschen über die künstlerische Ebene zusammen und miteinander ins Gespräch brachte.
Wir freuen uns auf weitere Impulse und persönliche Geschichten aus der Innenstadt-Ost! Den nächsten Erzählabend wollen wir am Dienstag, den 12. September dem Thema “Toleranz und Vielfalt” widmen. Wer miterzählen mag, ist herzlich eingeladen! Meldet euch gerne unter info@megafon-ka.de oder direkt im QUINO in der Adlerstraße 33 bei uns an.
Es grüßen euch herzlichst eure
Stefanie Knoll und Daniel Stutzmann
Die Erzählabende in der Innenstadt-Ost werden in Kooperation mit dem QUINO (AWO Karlsruhe) durchgeführt. Sie sind gefördert vom Land Baden-Württemberg und der Stadt Karlsruhe aus Mitteln der Nichtinvestiven Städtebauförderung.